Velodysée – ein Drama in 5 Akten – 4. Akt

4. Akt – Retardierendes Moment

Erinnern wir uns an den Mann von jenem Abend, der uns am Ende unserer bisherigen Erzählung an seiner Haustür begenete. Er schloss seine Haustür vor uns und nahm seine Töle, allerdings nur um uns von der hinteren Eingangstür in seine Hofeinfahrt zu lotsen. Wir konnten aufatmen. Sein Name war Yannick und seine dunklen Augen hatten unsere Gesichter wohl sofort richtig gedeutet. Er hatte eine Ahnung wie ernst es uns damit war, einen ruhigen, sicheren Platz zu finden. Er hatte das alte Bauernhaus vor drei Jahren gekauft und war noch dabei dieses, neben seiner Arbeit als Elektriker, herzurichten. In der großen Scheune fanden wir einen Stroh bedeckten, trockenen Zwischenboden, auf dem wir uns an sicheres Land zogen. Auf unserem Innenzelt begannen wir die triefenden Klamotten auszuziehen und uns gegen die Kälte in Wollunterwäsche und dicke Jacken zu packen, als Yannick hereinschaute, beschämt wegschaute, und uns dann zu einem Tee hereinbat. Er war sehr herzlich, auch wenn es uns beiden gerade sehr schwer fiel, uns auf einen fremden Menschen einzulassen, so sehr wir auch wollten. Wir spürten eine bittere Kälte in unseren Knochen, die so einfach nicht zu vertreiben war. Yannick überredete uns die Geschichte zu erzählen und erneut liefen uns Schauer über den Rücken. Diese Kälte in den Gliedern, wo doch keine Kälte war und die Scheu vor neuen Bekanntschaften sollten uns aber noch einige Zeit begleiten. Es war als hätte ein Erdbeben unser Weltbild, unser positives Menschenbild, in Trümmer gelegt. Wir hatten auf der Reise bestimmt auch schon früher einmal Angst gehabt, aber es war das erste Mal, dass wir um unser Leben fürchteten. Und solch eine Angst, vor einem unberechenbaren Menschen, ist etwas völlig anderes, als alles was wir bisher erlebt hatten. Uns schien es plötzlich sehr banal in Nächten Angst gehabt zu haben, dass unser Fahrrad geklaut werden könnte oder dass die Kamera in der Stadt abhanden kommen könnte.

Doch der liebe Yannick tat sein Allerbestes, um uns zurück zu unserem Urvertrauen in das Gute in einem jeden Menschen zu führen. Der nächste Tag war ein Werktag und wir standen alle zusammen früh auf. Aber wir sollten gar nicht zusammen mit ihm in der Frühe das Haus verlassen. Wir dürften uns Zeit lassen, meinte Yannick, wir könnten beim Gehen ja alle Türen ins Schloss fallen lassen. Yannick hatte in der Nacht für uns im Bad Handtücher hingerichtet, falls wir duschen wollten und außerdem hatte er für unser durchnässtes Maskottchen, ein Stofftier-Äffchen namens Kuki, eine Brille aus Kupferdraht gebogen.

Als wir schließlich das Haus verließen, war der Himmel noch immer bleigrau, doch es regnete nicht mehr. Nach wenigen Kilometern setzten wir uns auf ein Mäuerchen am Ortsrand und kochten Tortellini. Unsere erste richtige Mahlzeit seit dem Frühstück vom vorigen Tag. Doch der Appetit war nicht da, das Essen wie trockene Pappe im Mund. Wir schwebten noch immer in einem leeren Raum, der Abgrund dicht unter unseren Füßen. Wir hatten deshalb beschlossen in die nächstgrößere Stadt zu fahren, nach Dole, und von dort einen Zug zu nehmen, der uns weit weg, am besten ganz raus aus der Region, irgendwo in den Süden, irgendwohin ohne Regen, bringen sollte.

Für die geplante Strecke waren wir früh dran. Es waren noch etwa 30 Kilometer bis Dole und erst 10 Uhr morgens. Das Navi hatte die kürzeste Route berechnet, es wies uns ein kleines Stück über unbefestigte Wege durch den Wald bis zu einer Landstraße, der wir dann bis zur Stadt folgen würden können. Normalerweise mieden wir unbefestigte Wege, doch die Wegersparnis war uns zu verlockend, zu groß unser Bedürfnis einfach nur anzukommen.

Diese vermeintlich kleine Herausforderung entpuppte sich als das nächste, größere Desaster. Von Asphalt auf Kies, von Kies auf Wiese, von Wiese auf Lehmboden bogen wir in den Wald ein. Vor uns lag ein Stück von Waldmaschinen zerfurchtem Waldboden. Über die Stöcke und den Schlamm hinweg zu fahren, war nicht möglich. Also schoben wir unsere Räder in den Wald hinein. Doch wir sagten, die Straße ist nicht weit, jetzt umzukehren lohnt sich nicht. Nach zwanzig gefahrenen Metern lagen vor uns tiefe Fahrrinnen, die immer wieder von Pfützen unterbrochen wurden. Doch wir sagten, die Straße ist nicht weit, jetzt umzukehren lohnt sich nicht. Wir fuhren durch die Pfützen und allmählich waren die Pfützen immer häufiger knöchelhoch mit Wasser gefüllt. Als aus den Pfützen große Teiche wurden, die die gesamte Wegbreite einnahmen, stiegen wir ab und wateten durch Schlamm und über dicke Äste, um unsere Räder auf dem Weg weiterzubewegen. Doch wir sagten, die Straße ist nicht weit, jetzt umzukehren lohnt sich nicht. Ich sagte, ab jetzt kann es nur besser werden. Leni dachte sich, es kann immer schlimmer werden, sagte aber nichts. Wir gingen weiter. Die Straße ging nun bergan. Aus den Fahrrinnen waren Bäche geworden, welche die Pfützen freudig speisten. Äste und Gestrüpp versperrten uns den Weg. Also schoben wir unsere Räder bergauf, räumten Geäst aus dem Weg und waren froh, wenn wir auch nur ein kurzes Stück fahren konnten. Doch wir sagten wieder, die Straße ist nicht weit, jetzt noch umzukehren lohnt sich nicht mehr. Ich sagte, ab jetzt kann es ja nur besser werden. Leni dachte sich, es kann immer schlimmer werden, sagte aber nichts. Wir gingen weiter. Der Weg wurde immer steiler, der Boden immer schlammiger, die Hindernisse immer häufiger. Wir waren nun schon mehr als eine halbe Stunde im Wald und die Straße noch nicht in Sicht. Aber jetzt umzukehren lohnte sich ja wohl wirklich nicht mehr, sagten wir uns, es musste doch jetzt endlich besser werden. Es wurde noch schlimmer. Regen setzte ein und der Weg war nun so unwegbar und steil, dass wir beide schon mit unseren Rädern umgekippt waren und die Räder kaum noch einen Meter voran brachten. Der Weg war gut zu erkennen, doch selbst durch die Brombeeren mitten durch den Wald war es einfacher die Fahrräder zu bewegen. Also begannen wir zu zweit ein einzelnes Fahrrad abseits vom Weg zu schieben. Immer wieder ging Leni ein Stück voran, wurde kurz zur Bärin, die alle größeren Hindernisse aus dem Weg zerrte, Äste von umgemachten Bäumen abbrach und niedertrampelte, was stören könnte. Nach zwei Kilometern zu Fuß querfeldein, das Fahrrad den Berg hinauf schleppend, waren wir oben angekommen, aber nur mit dem ersten Rad – und es begann zu Hageln. Meine Achillessehne brannte, doch darauf Rücksicht zu nehmen, war nicht möglich. Ich wollte hier weg, wir wollten hier weg. Die vermeintliche Straße war ein weiterer Feldweg, doch zumindest nicht mehr so steil wie der vorherige. Wir wagten schon gar nicht mehr auszusprechen, was wir doch dachten, ab jetzt konnte es nur besser werden. Erschöpft holten wir auch das zweite Rad und machten uns daran, noch den letzten Abschnitt zu bewältigen. Wir erreichten schließlich, durchnässt und mit schlammigen Schuhen und Fahrrädern, die Straße, allerdings nicht ohne das bedrückende Gefühl zu haben, dass auf unserer Reise in diesem Moment etwas mächtig schief lief. Es war wie verhext, als hätte E. noch immer ihre Finger nach uns ausgestreckt.

Und nach alldem, was wir dort durchgemacht hatten, konnte es jetzt endlich beim besten Willen wirklich nicht mehr schlimmer werden. Und so war es. Der Hagel und Regen hörte auf, die vom Navi vorgeschlagene Straße war gut befahrbar und wir erreichten den uns schon bekannten Eurovelo-Radweg an der Sâone. Ein Bänkchen am Wasser, die Sonne spickelte durch die Wolken und unser Appetit kam zurück. Nach Dole noch zehn Kilometer. Jetzt konnten wir durchatmen. Zurück auf bekannten Wegen ging es uns gleich so viel besser, dass wir uns nicht mehr sofort weit weg wünschten, sondern erstmal in ein Hotel. Das war wonach wir uns sehnten, ein geschlossenes Zimmer nur für uns, keine unbekannten Menschen, keine Sorgen – ein sicherer Hafen.

Wir fanden ein Hotel, buchten dort ein Zimmer für zwei Nächte und bekamen vom Koch eine Bürste für unsere Schlamm verkrustete Ausrüstung. Wir hatten ein Zimmer, eine abschließbare Tür und eine Dusche. Wir fühlten uns allmählich besser. Der Regen konnte vor dem Fenster noch so toben, es machte unser warmes Bett nur behaglicher. Am zweiten Tag fanden wir dann auch die Lösung zur Fortsetzung unserer Tour. Wir hatten die Zusage von Françoise in Le-Puy-en-Velay bekommen, für zwei Wochen auf ihrem Biohof arbeiten zu können. In drei Tagen, am Ostermontag, sollten wir zu ihr ins alte Schloss kommen, um die nicht endende Regenperiode auszusitzen und ihr mit handwerklichen Arbeiten zu helfen. Wir gönnten uns noch ein hervorragendes Menü im Hotel und machten uns also nach dem dritten Tag in Dole, per Fahrrad und Zug, auf den Weg ins Zentralmassiv.

Ende des vierten Akts.

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